Mehr als 200 Personen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Stadtregierungen haben einen offenen Brief veröffentlicht, welcher für mehr Nachhaltigkeit und Wohlbefinden in Europa plädiert.
Das Echo von den Straßen Europas und darüber hinaus lautet „Systemwandel statt Klimawandel“. Als die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg im heurigen Februar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker traf, sagte sie ihm, er solle mit Expertinnen und Experten sprechen. Aber was sollen die sagen?
Systemwandelexpertinnen und -experten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Städten – wollen mutige und praktikable Antworten geben. Vergangenen Herbst forderten 238 Wissenschafterinnen und Wissenschafter gemeinsam mit 90.000 Bürgerinnen und Bürger ein Ende der Wachstumsabhängigkeit Europas. Bei der Konferenz „Wachstum im Wandel“ Mitte November 2018 in Wien wurde dieser Aufruf konkretisiert. Jenseits eines steigenden Bruttoninlandsprodukts (BIP) soll der Fokus auf ein positives Szenario für eine Wirtschaft nach dem Wachstum gesetzt werden.
Drei zentrale Hebelpunkte
Im offenen Brief werden drei zentrale Hebelpunkte für einen Wandel hin zu einer florierenden Gesellschaft innerhalb planetarer Grenzen identifiziert. Diese beraten politische Entscheidungsträgerinnen und -träger auf europäischer, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene über Wege, wie sie der sich immer weiter verschärfenden dreifachen Krise aus Klimawandel, Massensterben und sozialer Ungleichheit begegnen können.
Denn: Weder das Pariser Klimaabkommen noch die Aichi-Biodiversitätsziele oder die derzeitigen Steuersysteme sind in der Lage, mit diesen existenziellen Bedrohungen umzugehen. Wie eine Gruppe von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern gerade im Magazin „Science“ schrieb, „sind die aktuellen Maßnahmen zum Klima- und Biosphärenschutz völlig unzureichend“. Die gute Nachricht ist jedoch, dass tiefgreifende Veränderungen nicht nur nötig sind, sondern auch gewünscht werden. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage in ganz Europa ergab, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Umwelt für eine Priorität hält – selbst auf Kosten von Wachstum.
In der Diskussion um Hebelpunkte für einen systemischen Wandel gab es breite Zustimmung für drei Lösungsansätze, die weitere Lösungen nicht ausschließen. Sie sind alle drei dringlich, möglich, notwendig, erwünscht und wegweisend und erfordern eine visionäre Denkweise und eine anpackende Haltung. Sie brauchen einen Bewusstseinswandel weg vom Denken in kleinen Schritten – einer Denkweise, die uns zu diesem Krisenpunkt geführt hat.
1. Setzt das BIP als König ab und krönt Wohlbefinden zur Königin
Menschen wollen gut und erfolgreich leben. Politik, die auf BIP-Wachstum abzielt, geht oft auf Kosten von Menschen und Planeten gleichermaßen. Hingegen hilft Politik, die auf Wohlbefinden ausgerichtet ist, beiden wieder zu gesunden. Wohlstand ohne Wachstum ist möglich. Wachstum durch Übernutzung von Ressourcen, Kürzungen unserer Sicherheitsstandards und Umweltverschmutzung treiben Menschen und den Planeten in Burnouts. Beispiele aus Bhutan, Neuseeland oder auch Barcelona zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, sozialen und ökologischen Fortschritt vor das BIP zu stellen.
2. Von Steueroasen für Wenige hin zur Umverteilung für Viele
Während die Spitzensteuersätze in den USA und Großbritannien in den zwei Nachkriegsjahrzehnten bei +/- 90% lagen, sind diese jetzt auf (weit) unter 50% gesunken. Die meisten EU-Länder folgten diesem Trend und entbanden die Reichen so ihrer Verantwortung. Infolgedessen ist die Ungleichheit gestiegen. Das zunehmende Gefühl von (Steuer-) Ungerechtigkeit äußert sich in sozialen Unruhen und Populismus. Der Aufstand der Gelbwesten in Frankreich hat gezeigt, dass Umweltverschmutzung nicht ohne ein faires Steuersystem besteuert werden kann. Subventionen, die Umweltverschmutzung und Ressourcenübernutzung fördern, müssen sofort eingestellt werden. Einnahmen aus Umwelt/CO2-Steuern müssen dafür verwendet werden, das Wohlergehen der Ärmsten zu fördern.
3. Effiziente Produkte sind gut, suffiziente Lösungen sind großartig
Soziale und kulturelle Exklusion kann Effizienzgewinne zunichtemachen. Wir müssen nicht noch mehr Produkte verkaufen, sondern brauchen suffiziente und langlebige Lösungen. Einige Unternehmen bieten schon jetzt anstelle des Produkts Glühbirne den Service von Licht an, um so den Anreiz von der geplanten Obsoleszenz zu langlebigen Produkten umzukehren. Barcelonas Zero-Waste-Strategie umfasst fortschrittliche Abfallsammelsysteme mit intelligenten Abfallbehältern, welche dazu beitragen, den/die Nutzer*in zu identifizieren, Restmüll zu reduzieren und die Sammlung von Bioabfällen zu verbessern. Dieser Ansatz geht weit über die Sensibilisierung, Prävention und Unterstützung der Wiederverwendung hinaus.
Quellen: degrowth.org; wienerzeitung.at