Zwei Kinder werden geboren, die in der Geburtsort-Lotterie unterschiedliche Lose gezogen haben: das eine lebt in einem Land mit hoher menschlicher Entwicklung, das andere in einem mit niedriger. Wie ungleich sind ihre Möglichkeiten? Dem geht der jüngste UN-Bericht zur menschlichen Entwicklung nach.Während das erste 20 Jahre später mit ca. 50% Wahrscheinlichkeit in einer höheren Bildungseinrichtung studiert, hat das zweite diese 20 Jahre mit erschreckend hoher Wahrscheinlichkeit von 17% gar nicht überlebt. Mit diesem düsteren Einblick in das, was die statistischen Daten über den Zustand unserer globalen Gesellschaft im Jahr 2019 aussagen können beginnt der UN-Entwicklungs-Bericht.
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Ungleiche Mitsprache.
Allgegenwärtig und in aller Munde ist also die globale Ungleichheit. Dabei sind es nicht nur Einkommen und Vermögen, in denen die Menschen einander so ungleich sind. Im Fokus des United Nation Development Programms (UNDP, dt. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) steht insbesondere auch ungleiche politische Macht, und die Verzahnung von wirtschaftlicher Macht und politischer Repräsentation. Der UN-Bericht warnt eindringlich davor, untätig zuzusehen, wie sich diese Art der ungleichen Repräsentanz verfestigt und Wurzeln schlägt.
Bildung wirkt sich auf Gesundheit aus.
Zwei weitere Felder, in denen ungleiche Zugangschancen sich wechselseitig beeinflussen, sind die Bereiche von Gesundheit und Bildung. Das Bild einer abwärtsweisenden Spirale drängt sich auf: Der verwehrte Zugang zu den gemeinsamen gesellschaftlichen Instituten der Bildung schmälert den Ausblick auf ein Einkommen, das zum Leben reicht, und der höchst ungleiche politische Einfluss verringert die Chance, sich ein größeres Stück vom Kuchen erkämpfen zu können. Und der extrem unterschiedliche Zugang zu medizinischer Versorgung äußert sich durch Ungleichheit in ihrer wohl drastischsten Form: in der Lebenserwartung, die sich zwischen der Gruppe Länder mit niedriger menschlicher Entwicklung und der mit sehr hoher um durchschnittlich 20 Jahre unterscheidet.
Ungleichheit: Zu- oder Abnahme?
Was die Daten aber auch noch hergeben ist, dass die globale Ungleichheit gemessen and Einkommens- und Vermögensverteilung immer weiter sinkt. Diese nur scheinbar paradoxe Situation widmet sich etwa der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic. Nach mindestens 150 Jahren zunehmend extremer globaler Divergenz habe sich in den letzten 25 Jahren mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Indiens eine Bewegung globaler Konvergenz eingestellt. Seitdem verringere sich die Ungleichheit zwischen den Ländern stetig. Dass die globale Ungleichheit also zurückgeht, während die Ungleichheit innerhalb vieler Länder zunimmt, beschreibt die Dynamik. „Es gibt nicht nur Gewinner“, urteilt er lapidar, und meint damit die ärmeren 50% der Weltbevölkerung, deren Anteil am Nationaleinkommen fast überall sinkt. Und während sogenannte „elementare Lebensstandards“ der Ärmsten sich weiter verbessern, wird einiges was gerade noch Luxus war zur de-facto Notwendigkeit für die gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben. Unsere zunehmend wissensbasierte und technologisierte Wirtschaft bietet immer weniger Chancen für Menschen mit geringer Bildung.
Maßnahmen gefragt.
Eine zentrale Botschaft des UN-Berichts ist, dass sich die mit Ungleichheit verbundenen Probleme über ein Menschenleben hinweg tendenziell immer weiter vergrößern. Der Gedanke, dass Interventionen in besonders frühen Lebensphasen – tatsächlich bereits vor der Geburt – wohl besonders wirkkräftig sein können, drängt sich auf. Auf einer globalen Ebene verfasst kann der Bericht aber natürlich nur Anstöße für lokale politische Debatten liefern. Und das Patentrezept gibt es nicht. Branko Milanovic warnt außerdem: was im Durchschnitt gut ist, ist keineswegs gut für alle. Dieser Gedanke lohnt sich im Kampf gegen die Ungleichheit ganz besonders.
Geburtslotterie entscheidend.
Doch kehren wir zurück zu den zwei Kindern, die in sehr unterschiedliche Verhältnisse, aber doch in die gleiche Welt geboren wurden. Die Weichen für ihre Entwicklungschancen stellt also wohl die Geburtslotterie – aber ob globaler Norden oder Süden spielt dabei eine zunehmend geringere Rolle. Immer wichtiger wird aber, in welche Familie sie hineingeboren werden, ob sie von ihren Eltern eine Erbschaft in Form von immer knapper werdendem Wohnraum erwarten können, oder ob sie ihren Lebensweg bereits verschuldet starten.
Fazit.
Der UN-Bericht zeigt am Ende eines deutlich auf: Genau hinschauen und Fragen der Ungleichheit vernetzt denken lohnt sich für die Politikgestaltung. Unter der Oberfläche liegt wesentlich mehr verborgen, als bloße Einkommens- und Vermögensvergleiche erahnen lassen. Und: „Jede Gesellschaft hat die Wahl im Hinblick auf das Niveau und die Art der Ungleichheiten, die sie toleriert.“
Quelle: Paulo Freire Zentrum