In der Interviewserie „Worüber denken Sie nach“ auf zeit.de spricht die Sozialwissenschaftlerin und Autorin des Buchs „Unsere Welt neu denken“ Maja Göpel über Corona als Chance für Solidarität und einen Kurswechsel in der Wirtschaft. Sie beschäftigt sich mit den Fragen „Werden wir genug haben?“, „Werden wir genug teilen?“ und schließlich „Wer ist eigentlich ‚Wir‘?“
Auszug aus dem Interview von Elisabeth von Thadden
Werden wir genug haben?
„Auf einem begrenzten Planeten spiegelt ein Zuviel an einem Ort der Welt ja ein Zuwenig an einem anderen. Und mit der Fridays-For-Future-Bewegung war meines Erachtens bei vielen die Perspektive gekippt: von einer Verweigerung, planetare Grenzen anzuerkennen, in eine Sorge darüber, dass diese Grenzen ja wirklich existieren könnten. Und im ersten Corona-Lockdown mit den leeren Supermarktregalen war eine solche Erfahrung von Begrenzung zum ersten Mal real. Damit drängelte sich die zweite Frage, ob wir genug teilen werden, in die erste hinein und sorgt für zusätzliche Unruhe. Ging es vorher um gerechtere Umverteilung des Zuwachses, geht es nun um den gerechten Zugang zu einem relativ stabilen Bestand, wie in der Krankenversorgung, und auch zu den Rettungsfonds. Es wird darum gerungen, ob sie alte Strukturen stützen oder doch den schon vorher deklarierten Strukturwandel, der auch mit Verweis auf Geldmangel immer wieder verschleppt wurde.“
Werden wir genug teilen?
„Unsere Gesellschaft versteht Produktivität und Wertschöpfung heute rein monetär. Damit riskieren wird den zivilisatorischen Fortschritt preiszugeben, den gute Bildung, Pflege und Kultur bedeuten. Fragt man nach den Motiven der Studienwahl, dann ist die Motivation des Geldverdienens unter jungen Juristen und Ökonomen am höchsten – die wiederum in Zukunft eben diese Regeln der Gesellschaft festlegen. Dieser Interessenkonflikt zeigt sich auch darin, dass keine Diskussion darüber aufkommt, warum die Gesellschaft heute noch eine private Krankenversicherung für verbeamtete Bürokraten in bequemen Jobs finanziert. Das gesellschaftliche Gespräch über Wertschöpfung, Wertschätzung und soziale Gerechtigkeit in einer rasant veränderten Welt steht erst am Anfang.“
Wer ist eigentlich „Wir“?
„Im Moment teilt sich das Land (Deutschland, Anm.) in zwei Lager. Das eine sagt, die Probleme müssten global gelöst werden und alle Menschen berücksichtigen. Das andere meint, die eigene Verantwortung sei lokal oder national begrenzt. Ich frage mich, wie wir es hinbekommen, dass wir offen miteinander reden können, ohne in eins dieser beiden Lager gepresst zu werden. Denn erst so könnte ein „Wir“ entstehen, das einer erneuerten Gemeinwohlorientierung in der Gesellschaft zugrunde liegen kann. Interessant finde ich das neue Format des deutschen Bürgerrats, dessen Mitglieder ausgelost werden. Der Bundestag hat sich das Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ ausgesucht. Darüber wird der Rat ab Januar sprechen, Experten anhören und Empfehlungen formulieren. Das kann ein Forum sein, die Identitätsfrage nicht populistisch zu stellen, um Ab- und Ausgrenzungen vorzunehmen, sondern die Frage der kulturellen und politischen Verankerung in der Welt so zu klären, dass Gemeinsamkeiten und Verbindungen in den Vordergrund rücken.“