23.-24.1.2015, Berlin/Subsistenz bezeichnet in der Geschichte der Ethnologie die Produktionsform von Gemeinschaften mit geringer Naturbeherrschung; in kulturgeschichtlich-volkskundlichen Kontexten werden damit Formen von Arbeiten und Wirtschaften primär zur Überlebenssicherung verstanden. Angesprochen sind mit Subsistenz jene Praktiken und Institutionen, die auf Selbstversorgung und selbsterhaltenden Lebensunterhalt abzielen – und das individuelle oder kollektive Unterfangen, jenseits der Marktwirtschaft materielle, soziale und geistige Bedürfnisse zu befriedigen.
Gegenwärtige Praktiken der Subsistenz sind verbunden mit einer Rückbesinnung auf kleinräumiges Handeln und der Entwicklung neuer, utopischer, solidarischer und integrativer (Re-)Produktionsstrategien, die auf demokratische Partizipation abzielen. Die Abkehr von komplexen und anonymisierten ökonomischen Waren- und Finanzflows ist motiviert durch den Blick auf globale Tendenzen und Krisen-Diskurse; Ziel ist die Erweiterung alltäglicher Handlungsmöglichkeiten. Subsistenz wird in diesen Modellen zu einer Quelle materieller, spiritueller, ästhetischer, kultureller (urbaner/ruraler) Ressourcen von Sinn, auch in der Herausbildung neuer distinkter Lebensstile und -modelle.
BLICKRICHTUNGEN
In Zeiten der gegenwärtigen globalen Krise wird Menschen einerseits der Boden unter den Füßen weggezogen (Kommerzialisierung der Agrarverhältnisse, land grabbing). Menschen begeben sich in die Migration und/oder sehen sich gezwungen, z.B. in Fabrikationsorten der globalen Textilindustrie ihren Unterhalt zu verdienen. In den Städten bildet sich Neoliberalismus in der Privatisierung von Grund und Boden und in steigenden Mieten ab. Die Rückkehr zur Subsistenz ist eine Antwort darauf.
Auf der anderen Seite schwindet die Bevölkerung, fallen Siedlungen und Stadtteile mitsamt ihrer Infrastruktur wüst – hier setzt subsistente Wissensproduktion und -vermittlung besonders für Marginalisierte und Abgehängte an. Während althergebrachte Subsistenzstrategien meist in örtlich bestehenden Gemeinschaften tradiert wurden, spielen für den Wissenserwerb bei den neuen Subsistenzstrategien auch das Internet und Strategien wie open source eine wichtige Rolle.
Neben den prekären und widerständigen Formen subsistenter Ökonomien ist zudem eine Aktualisierung moralischer Ökonomien zu beobachten. Sie stellen eine Reaktion auf die globalen Flows und die damit verbundenen Missstände dar und wenden sich explizit gegen das Wachstumsparadigma. Stichworte sind hier das „gute Leben“ (Buen Vivir), solidarische Ökonomie, commons und Schenkökonomie. Die alternativen lokalen und regionalen Handlungsstrategien bringen über den Nationalstaat hinausreichende politische Handlungsoptionen hervor. Innovative global-regionalisierte soziale und kulturelle Subsistenzformen entwickeln sich weiter – das führt seinerseits zu neuen Konflikten.
23.01.2015 – 24.01.2015 // 09:30 Uhr – 15:30 Uhr
Mohrenstraße 41, 10117 Berlin, U-Bahn Hausvogteiplatz oder Stadtmitte
Tagungsort: Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin
Mohrenstraße 41, 10117 Berlin, U-Bahn Hausvogteiplatz oder Stadtmitte
Anmeldung unter: tagung2015(at)gfe-online.org
Kontakt: bei Rückfragen wenden sie sich gern an Kerstin Poehls (Hamburg) und Leonore Scholze-Irrlitz (Berlin) via tagung2015(at)gfe-online.org
PROGRAMM
Freitag, 23. Januar 2015
9.30 Uhr Begrüßung
9.45-11.00 Uhr
Michaela Fenske & Anna Carolina Vogel, Göttingen:
Subsistenz als Alternative? Handlungsoptionen zukünftiger Gesellschaften im Blick des Vergangenen
Daniel Schläppi, Bern: Logiken der Subsistenz in historischer Perspektive. Der wirtschaftlich tragfähige Haushalt als gesellschaftliche und politische Leitgröße der Vormoderne
11.00-11.30 Uhr – Pause
11.30-13.00 Uhr
Elisabeth Kosnik, Graz: Selbstversorgung und erweiterter Haushalt als alternative Wirtschafts- und Lebensform zwischen Utopie und Realität
Anja Decker, München:Spannungsfeld Subsistenz. Erkundungen in einer peripherisierten ländlichen Region der Tschechischen Republik
Lukas Silberbauer, Wien: Regionale Währungen – ein neues Instrument der Subsistenzwirtschaft
13.00-14.30 Uhr – Mittagessen
14.30-16.00 Uhr
Podiumsgespräch: Subsistenz – Begriff und Konzept. Kenneth Anders/Bad Freienwalde, Andrea Baier/Berlin, Dieter Kramer/Wien, Dörscheid,
16.00-16.15 Uhr – Pause
16.30-17.30 Uhr
Mitgliederversammlung der GfE e.V. – 25 Jahre GfE
anschließend: Büfett
18.30 Uhr
FILMPROGRAMM – Johanna Ickert, Potsdam/Portsmouth: „The potential of renewable energies in Africa“ (2013)
Samstag, 24. Januar 2015
9.30-10.45 Uhr
Manuela Bojadzijev, Berlin: Berliner Common(s). Urbane Initiativen‚ „frontiers of capital“ und Migration aus ethnografischer Perspektive
Felicitas Sommer, Leipzig: Beitragen statt Tauschen? Vorstellungen von gerechter Verteilung und ihre Umsetzung in einer solidarischen Gärtnereikooperative bei Leipzig
11.00-11.15 Uhr – Pause
11.15-12.15 Uhr
Timo Duile, Bonn: Revitalisierung subsistenzwirtschaftlicher Ansätze im Kontext der Konstruktion regionaler Identitäten in West-Kalimantan, Indonesien
Philip Gondecki, Bonn: Yasuni – Modellregion für das „Buen Vivir“? Indigene Lebensprojekte, Subsistenzformen und Dependenzen der Waorani im ecuadorianischen Amazonastiefland
12.15-14.00 Uhr – Mittagessen
14.00-15.00 Uhr
Alexandra Rau, München: Ökonomie Flaschensammeln. Ethnographische Erkundungen subsistenter Strategien
Marcus Richter, Marburg: „Dem Wertkreislauf entzogen“. Prekäre Praxen der Ent-Wertung am Beispiel eines Umsonst(T)raums
15.00 Uhr
Abschlusskommentar/Thematische Zusammenschau durch Philipp Altmann, Berlin & Diskussion
15.30 Uhr – Ende
Tagungsgebühren: 30 EUR voll, 10 EUR ermäßigt (Studierende, Arbeitslose etc.)
——————————————————————————–
Links: