Mit 2029 verbietet Finnland den Einsatz von Kohle in der Energieerzeugung. Das hat auch Folgen für Helsinki. Mehr als die Hälfte der Heizenergie in der finnischen Hauptstadt kommt aus Kohlekraftwerken. Die Suche nach Alternativen macht Helsinki nun zum Wettbewerb – ein hohes Preisgeld inklusive.
Von Martin Steinmüller-Schwarz
Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis, lautet ein nicht ganz ernster Sinnspruch. Im Fall von Helsinki hat Bürgermeister Jan Vapaavuori den Arbeitskreis nun gegen einen Wettbewerb eingetauscht. Am Donnerstag läutete Vapaavuori in der finnischen Hauptstadt den Beginn der „Helsinki Energy Challenge“ ein. Deren Ziel: eine Alternative für die auf Kohle basierte Wärmeversorgung der Stadt zu finden. Dem Gewinnerteam winkt ein Preisgeld von einer Million Euro. „Lösungen für die Herausforderung des Heizens in der Stadt sind entscheidend, um die globalen Klimaziele zu erreichen“, sagte Vapaavuori am Donnerstag. Helsinki lade „Erfinder aus aller Welt“ ein, „unsere Stadt als Prüfstand zu verwenden, um Lösungen zu finden, die nicht nur ohne fossile Brennstoffe auskommen, sondern wirklich nachhaltig sind“.
Fernwärmenetz gegen die Kälte
Als geeignetes Testlabor sieht sich Helsinki auch aufgrund der klimatischen Bedingungen. „Helsinki ist kalt genug.“ Was sich in der finnischen Hauptstadt umsetzen lasse, funktioniere auch überall sonst auf der Welt, sagte Laura Uuttu-Deschryvere, Projektleiterin der „Helsinki Energy Challenge“, diese Woche auf dem DecarbCities Forum in Wien. Zwar liegt Helsinki ganz im Süden Finnlands. Für europäische Verhältnisse ist das aber immer noch der hohe Norden. Temperaturen im zweistelligen Minusbereich sind im Winter keine Seltenheit. Und auch an einem durchschnittlichen Wintertag klettert das Thermometer nicht über null Grad.
Dafür verantwortlich, dass es die rund 650.000 Bewohnerinnen und Bewohner von Helsinki trotzdem warm haben, ist die Stadt. Fast alle Wohnungen und Häuser in der finnischen Hauptstadt sind an das städtische Fernwärmenetz angeschlossen. Zum Vergleich: Im – freilich dreimal so großen – Wien bezieht nur rund ein Drittel aller Haushalte Fernwärme. In absoluten Zahlen freilich haben die finnische und die österreichische Hauptstadt ungefähr gleich viel Fernwärmeanschlüsse.
Kohle mit Ablaufdatum
In Helsinki produzieren drei große Kraftwerke im Besitz des städtischen Energieunternehmens Helen Wärme und Strom für die Hauptstadt – und übernehmen dabei 90 Prozent der Heizungsversorgung der Stadt. Noch passiert das durch das Verbrennen von Kohle und Erdgas. Und das schlägt sich auch in der CO2-Bilanz der Stadt nieder. 56 Prozent der CO2-Emissionen Helsinkis gehen auf die Energieproduktion fürs Heizen zurück. Doch damit soll bald Schluss sein. Bis 2035 will Helsinki klimaneutral werden. Fossile Brennstoffe für Strom, Heizung und Warmwasser sollen dann Geschichte sein.
Noch schneller muss die finnische Hauptstadt aber von der Kohle loskommen. Ab 2029 ist deren Einsatz zur Energieerzeugung im ganzen Land verboten. Das hat die finnische Regierung vor zwei Jahren beschlossen. Für Helsinki bedeutet das, dass die Stadt in den kommenden neun Jahren einen großen Teil ihrer Wärmeversorgung auf neue Füße stellen muss. 53 Prozent der 7.200 GWh, die 2018 in das Fernwärmenetz flossen, wurden durch das Verbrennen von Kohle produziert.
Kraftwerke aus einer anderen Zeit
Zwei große Kraftwerke stehen ganz nah am Zentrum der Hauptstadt – Salmisaari und Hanasaari. Es sind gewaltige Kathedralen aus einer Zeit, als die vom Menschen verursachte Erderwärmung bestenfalls eine kleine Gruppe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigte. Mehr als hundert Meter ragen die Schlote der beiden Kraftwerke in die Höhe.
1974 wurden in Hanasaari das erste Mal Strom und Wärme produziert. Fünfzig Jahre später soll dort das letzte Mal Kohle verbrannt werden. 2024 wird Hanasaari B – so die ganz korrekte Bezeichnung des Kraftwerks – vom Netz genommen. Als Ersatz dafür plant Helen unter anderem den Aus- und Neubau von Wärmepumpenanlagen sowie einen ziemlich großen Wärmespeicher, der 320.000 Kubikmeter (rund 650-mal das Volumen des Sportbeckens in der Wiener Stadthalle) fassen soll. Den größten Anteil wird aber ein neues Biomassekraftwerk übernehmen.
„Wissen nicht, was die besten Technologien sind“
Fünf Jahre nach Hanasaari schlägt dann auch den Kohlekesseln im Salmisaari-Kraftwerk die letzte Stunde. Woher die 490 Megawatt an Leistung, die dadurch wegfallen, in Zukunft kommen sollen, ist noch offen. „Für einen Ersatz wurden noch keine Investitionsentscheidungen getroffen“, heißt es in einer Aussendung der Stadt. Oder wie es Projektleiterin Uuttu-Deschryvere in Wien formulierte: „Wir wissen nicht, was die besten Technologien sind.“
Entsprechend offen hat die Stadt den Wettbewerb gestaltet. Teilnehmen können grundsätzlich jeder und jede: „Arbeitsgemeinschaften, Start-ups, größere und bereits etablierte Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Forschungsgruppen oder einzelne Expertinnen und Experten“, zählt die Stadt auf. Letztere sollten sich aber zumindest eine Partnerin oder einen Partner suchen. Denn „die einzige Bedingung ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wettbewerb als Team teilnehmen“.
Bis Ende Mai können die Vorschläge in einer ersten Variante eingereicht werden. Daraus werden dann bis Juli die Finalisten ausgewählt, die dann in einer Gemeinschaftsphase ihre Ideen weiterentwickeln sollen. Im Oktober entscheidet dann eine internationale Jury darüber, wer die Million Euro mit nach Hause nehmen darf.
Absage ans Holz
Der Siegervorschlag könnte sowohl technische als auch Innovationen im Bereich der Geschäftsmodelle beinhalten, so die Stadt. Es könnte aber auch eine „Lösung sein, die eine Transformation auf Systemebene erfordert“. Nur eines schließt Helsinki aus: Die vorgeschlagenen Lösungen sollen ohne weitere Biomassekraftwerke auskommen.
Als Gründe nennt die Stadt Zweifel an der tatsächlichen Nachhaltigkeit sowie zu hohe logistische Hürden. Finnland hat zwar viel Wald, doch müsste das Holz über weite Strecken transportiert werden. Und ob sich Hunderte Tonnen Hackschnitzel, die auf Lkws in die Stadt rollen, als nachhaltig verkaufen lassen, ist offenbar eine Frage, die sich Bürgermeister Vapaavuori gar nicht stellen möchte.
Ähnliche Herausforderungen auch anderswo
Die Absage an zusätzliche Biomassekraftwerke könne er nachvollziehen, sagte auch Werner Prutsch, Vorstand des Grazer Umweltamts. Schließlich sei lokale Biomasse eine beschränkte Ressource. Greife Graz etwa auf die gesamte Steiermark zurück, dann ließen sich mit dem Holz gerade einmal 15 bis 20 Prozent des Fernwärmebedarfs der Stadt decken – so es nicht zu schweren Verwerfungen auf dem Markt kommen solle, so Prutsch im Gespräch mit ORF.at.
Der Chef des Grazer Umweltamts hat sich in den vergangenen Jahren mit ganz ähnlichen Fragen beschäftigt, wie sie auch Helsinki umtreiben. Vor mehr als sechs Jahren stand Graz vor einer vergleichbaren – wenn auch deutlich kleiner dimensionierten – Herausforderung wie Helsinki. Kurz vor Weihnachten 2013 teilte der Verbund der Stadt per Mail mit, dass das Fernheizkraftwerk Mellach mit 2020 seinen Dienst einstellen werde. Für Graz bedeutete das den Wegfall von mehr als 200 MW Leistung für das Fernwärmenetz, an dem damals rund 40.000 Haushalte hingen.
Auch Graz startete in dieser Situation einen öffentlichen Aufruf, betitelt mit „calls for contributions“. Mehr als 140 Personen aus Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft wurden laut Prutsch eingebunden. Das habe auch dazu gedient, die „ganze Situation ruhig zu halten“ und gegenüber der Öffentlichkeit „offen zu spielen“. Zugleich wurde im Zuge des Prozesses „Wärmeversorgung Graz 2020/2030“ aber eine ganze Reihe an Maßnahmen erarbeitet, um die Energieeffizienz zu steigern und den Anteil an nachhaltiger Energie zu erhöhen, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden.
„Dickes Brett“ Klimaneutralität
Bisher scheint das der Stadt ganz gut gelungen zu sein. Wenn mit Ende dieses Winters das Kohlekraftwerk Mellach den Dienst einstellt, wird das für das Grazer Fernwärmenetz kein Problem darstellen – und das, obwohl mittlerweile sogar 70.000 Haushalte daran hängen. CO2-neutral ist das Fernwärmenetz freilich noch lange nicht. Ein Viertel der Heizenergie kommt zurzeit aus erneuerbaren Quellen oder wird aus Abwärme gewonnen. Für den Rest werden weiterhin fossile Rohstoffe, vor allem Erdgas, verbrannt.
Der Plan, bis 2040 klimaneutral zu werden, wie ihn die Bundesregierung forciert, sei jedenfalls ein „sehr dickes Brett, das zu bohren ist“, sagte Prutsch. Für den Umweltamtschef liegen die großen Hürden dabei gar nicht nur im technologischen Bereich. Es gehe vor allem auch um finanzielle, logistische und auch rechtliche Fragen, so Prutsch.
Rechtliches und Kurioses
Seit Ende 2017 wird etwa die Abwärme des Papier- und Zellstoffwerks Sappi in Gratkorn nördlich von Graz in das Grazer Fernwärmenetz eingespeist. Möglich wurde das aber nur, weil der kleine Netzbetreiber Bioenergie Fernwärme BWS GmbH als Kooperationspartner die Errichtung der rund zehn Kilometer langen Transportleitung von der Fabrik nach Graz übernahm.
Unternehmen in öffentlichen Besitz könnten solche Vorhaben nur umsetzen, wenn sie die Investitionen garantiert für zumindest 15 Jahre abschreiben können. „Aber kein Betrieb wird eine Garantie über einen solchen Zeitraum abgeben“, sagte Prutsch. Sprich: Kein Unternehmen wird vertraglich zusichern, dass der Standort auch noch in 15 Jahren existieren wird. Laut Prutsch braucht es für solche Projekte eine Art staatliches Versicherungssystem.
Es ist das freilich nur eine von mehreren Hürden, die Prutsch im Hinblick auf das Projekt einfallen: Bereits in der Stadt hätte die Leitung über den Parkplatz eines Wohnhausanlage führen sollen, erzählte er. Bis auf einen stimmten alle Eigentümer dem Plan zu. Doch der eine Einspruch reichte, um die geplante Trassenführung zu verhindern. Der Fall mag kurios anmuten. Er macht aber auch die Spannungsfelder deutlich, in dem die Energiewende passiert – technische, wirtschaftliche und nicht zuletzt rechtliche.
Auf rechtliche Herausforderungen wird auch die Helsinki Energy Challenge kaum Antworten geben können. Es würden nur solche Vorschläge in Betracht gezogen, zu deren Umsetzung die Stadt auch befähigt ist, sagte Projektleiterin Uuttu-Deschryvere. Doch wer weiß: Vielleicht ist bei den Ideen in Helsinki ja doch die eine oder andere dabei, die in Zukunft auch in Österreich übernommen wird. Die finnische Hauptstadt versprach jedenfalls bereits, „alle aus dem Wettbewerb gewonnenen Lösungen und Erfahrungen offen zu teilen“.
Quelle: orf.at vom 28.02.2020