20.03.2012, Kommentar in FT
Ein Kommentar von Axel Reimann in der Financial Times vom 20.03.2012:
Bitte ein BIP
Eine Enquetekommission sucht Wachstumsalternativen – und keiner sucht mit. Eine Zwischenbilanz.
Vielleicht erinnert sich ja einer: Es gibt da immer noch so eine Enquetekommission des Deutschen Bundestags, die sich seit über einem Jahr regelmäßig trifft und ein wichtiges Thema beackert: wie wir wegkommen von der doofen Fixierung aufs Wirtschaftswachstum. Titel der Veranstaltung: „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“. Morgen ist es wieder so weit: Die Kommission lädt zum Symposium ins Paul-Löbe-Haus. Grußwort vom Bundestagspräsidenten, Vorträge, Diskussionsrunden („Warum Wachstum allein nicht glücklich macht“), Mineralwasser. Toll.
Und dann gibt es die Wirklichkeit. Die sieht so aus: Außerhalb dieses Zirkels (oder ähnlich romantischer Kreise) wollen zurzeit wieder alle mehr Wachstum. Und zwar schnell. Trotz der vielen Regalmeter an wachstumskritischer Literatur, die sich in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt haben. Wirklich alle setzen darauf, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) doch bitte, bitte zunehme – am besten mindestens so lange, bis Außerirdische den Planeten übernehmen. Die Regierung will das (so wie das alle Regierungen überall immer gewollt haben), die Opposition sowieso, ja sogar die Grünen; die Gewerkschaften wollen Wachstum („die eigentliche ökonomische Grundlage“), die Arbeitgeber wollen es („die Grundlage unseres Wohlstands“), der Bankenverband fordert es („Überwindung der Krise in Europa“), die EZB auch (Begründung siehe Bankenverband), die Krisenländer sowieso, die Wahlkämpfer in Frankreich genauso wie der geballte ökonomische Sachverstand aller Chefvolkswirte. Und die EU geht dafür gleich mal wieder einen eigenen Pakt ein. Alles wie immer.
Da kann das Wachstum noch so aufgehübscht sein mit Begriffen wie „nachhaltig“, „intelligent“ oder „integrativ“ – am Ende geht es doch nur um eine positive Veränderungsrate des BIPs. Wer damit hadert, wartet mit seiner Wachstumskritik bis zum Kirchentag. Oder schreibt seine Zweifel, wie der Bundesfinanzminister, in Gastbeiträgen für „Christ & Welt“ nieder. Um sich dann wieder dem Tagesgeschäft widmen zu können.
Nein, glücklich sind wir zwar nicht mit dem BIP als Messgröße des Wohlstands. Zumindest in den westlichen Industriestaaten haben wir da sättigungsbedingt ein gespanntes Verhältnis. Wächst es, finden das inzwischen viele bei uns unanständig, weil das den Planeten kaputt macht. Das Gegenteil – Stagnation oder gar eine Rezession – mag aber auch keiner so richtig. Denn das kostet Arbeitsplätze, schafft soziale Spannungen und schlägt nachweislich auf die Gemüter. Außerdem ist ohne Wachstum die Schuldenkrise in Europa nicht mehr zu wuppen. Andererseits wächst das BIP ja selbst, wenn Maschinen kaputtgehen, Menschen zu Pflegefällen werden oder Atommülltransporte durch Deutschland schaukeln.
Es ist also theoretisch schon sinnvoll, dass sich die Enquetekommission nach Ersatz umschaut für den ungeliebten Wohlstandsindikator, zumindest nach einer Ergänzung. Noch vor Ende der Legislaturperiode wollen die 17 Bundestagsabgeordneten und 17 Sachverständigen ihren Bericht vorlegen.
Es gibt da nur ein Problem: Schon jetzt ist absehbar, wie die Antwort nach zahlreichen Sitzungen, Gutachten und Expertenanhörungen wahrscheinlich aussehen wird. Wie immer. Wie seit Jahrzehnten. Und zwar so: Wachstum darf nicht mehr der alleinige Maßstab für den Wohlstand einer Gesellschaft sein. Ach ja. Aber man darf es auch nicht verteufeln. So, so. Dann wird noch der eine oder andere schicke neue Indikator vorgestellt, den man künftig berücksichtigen wolle – und das war es dann.
Spätestens nach einer Woche schert sich kein Mensch mehr um den „Nationalen Wohlfahrtsindex“, das „Wohlstandsquartett“, das „Indikatorenbündel Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit“ oder was auch immer zur Ergänzung des BIPs erfunden wurde. Aber alle werden wieder auf das BIP starren.
Es ist natürlich anmaßend, der Kommission schon nach der Hälfte ihrer Amtszeit zu prognostizieren, dass ihre Arbeit ausgeht wie das Hornberger Schießen. Gibt es denn jetzt nach fünf Jahren Krise nicht überall ein Umdenken – bei den Ökonomen, den Politikern, den Wirtschaftsführern? Da müssen dann doch auch mal Maßstäbe rauskommen, die als Orientierungsgrößen besser geeignet sind als das BIP. Tatsächlich werden doch weltweit schon ausgefeilte Wohlstandsthermometer entworfen.
Doch es wird nicht funktionieren. Denn es ist nicht ein Mangel an alternativen statistischen Größen, der uns auf das Wachstum starren lässt. Um die Frage zu beantworten, ob es den Menschen in einem Land besser geht, kann man sich ja – je nach Vorliebe – die Arbeitslosenquote, den Gini-Koeffizienten, die Lebenserwartung oder die Wasserqualität von Badeseen ansehen. Es geht nicht um die Messung des wie auch immer gearteten Glücks eines Landes. Wir kleben am BIP aus dem uralten, immergleichen Grund: weil sein Wachstum die Verteilungsfrage entschärft.
Wenn die Enquetekommission also tatsächlich Alternativen zum Wachstumszwang entwickeln will, sollte sie auch gleich ein kollektives Umerziehungsprogramm ausarbeiten – Arbeitstitel: „Teilen ist geil“. Nur das könnte den Aufstand bei einer Abkehr vom Wachstumsziel etwas abmildern.